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Kobe

Gefühl in Zahlen/Die Statistik zeigt, wie sich die Ergebnisse von Weinproben manipulieren lassen

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Gude!

 

Einen ebenfalls schönen Artikel (immer noch völlig OT) hab' ich fast übersehen.

Die hier geschilderten Dinge haben aber mit den Hobbys mancher Leute hier nix zu tun.

 

Gruß Kobe

 

http://www.zeit.de/2004/39/W-Psychologie

 

Trinken ist psycho

 

Das Hirn ist sensibel. Es genießt den Wein bereits, bevor die Flasche geöffnet ist. Listige Verkäufer nutzen das aus

 

Von Urs Willmann

 

Bevor sich der erste Schluck im Mund verteilt, hat das Gehirn längst getrunken. Denn es kann einfach nicht warten. Es fängt mit dem Nippen sogar schon an, wenn der weininteressierte Mensch, in dessen Kopf es sitzt, erst noch im Laden steht. Dann schleichen Geist und Seele aus ihm heraus, hangeln sich imaginär am Regal entlang, schlüpfen hinein in die Flaschen und schlecken schon mal an der Süße und Säure des Rieslings. Das Gehirn spürt die Schwere des Rotweins lange vor dem Körper. Es spielt mit den Bläschen des Prosecco, während das Auge noch immer Etiketten sieht.

 

Zumeist sind es die Begriffe, sie aktivieren ein Sprachzentrum im Gehirn. Erfahrungsspeicher werden abgerufen. Schon fluten Emotionen durch kortikale Areale. »Château« und »Spätlese« und »Tipica« liest das Auge und »Cru« und »Classé«. Schon ist der Denkapparat angeworfen und das Zentralorgan voller Aromen.

 

Die Details, die das Bewusstsein und das Unbewusste des Käufers beeinflussen, weiß auch der Abfüller zu nutzen. Da wäre zum Beispiel die Schrift. »Metallische Farben, Gold und Silber, werden häufig verwendet«, sagt Bernd Reuschenberg. Der Psychologe von der Universität Heidelberg erklärt, warum: Sie suggerieren »Hochwertigkeit«. Sind die Buchstaben zudem noch konturiert, gaukeln sie »den Charakter eines Siegels« vor. Denn wo finden sich Siegel, Plaketten, fühlbare Inschriften? Sicher nicht auf einem Allerweltsgegenstand mit schneller Verfallszeit.

 

Es gibt Flaschen mit Ausstattungen, die keinen Sinn haben – außer dem, dem Gehirn ein Gefühl mit auf den Weg zur Kasse zu geben. Der potenzielle Käufer soll glauben, dass er seine Kreditkarte gleich für Wertvolles zücken wird. Ein solches für den Wein selbst absolut funktionsloses Ding ist das Messingdrahtgeflecht, das auch einen mittelprächtigen Rioja-Riserva in einen güldenen Schleier hüllt, als wäre er eine Pretiose.

 

Jede Flasche brüllt uns an, mit all den Attributen, die der Produzent seinem Produkt auf den Verteilerweg gegeben hat. Bocksbeutel: regionale Spezialität! Fiasco-Bauch: preisgünstiger WG-Chianti! Schlanke Flasche in knisterndem Cellophan: edles Elixier, schmuckes Präsent!

 

Wer die Botschaften kennt, kann bluffen: Verschenken Sie Aldi-Wein mit Angabe eines Château (Tradition! Würde!) in einer schweren Holzkiste (Pretiose, braucht Schutz!) mit Holzstreben (sehr wertvoll, braucht Extraschutz) an einen Freund, der sich nicht auskennt (und dessen Freunde sich auch nicht auskennen). Sie können das Spiel auf die Spitze treiben und vor dem Verpacken auf jedes Etikett eine Nummer drucken und die Hälse in flüssiges Wachs tunken. Der Respekt des Beschenkten wird so groß sein, dass er es nie wagen wird, eine Flasche anzurühren. Ihr Betrugsdelikt bleibt unbemerkt und ungesühnt. Selbst Experten trampeln wie Trottel in die ewig gleichen psychologischen Fallen. Edle Etiketten oder dunkle Rottöne verbessern das Urteil eines routinierten Verkosters erwiesenermaßen deutlich (siehe Seite 48). Denn kaum einer kann sich der Botschaften entziehen, die Flaschen verkünden.

 

Helene Karmasin, die Leiterin des Wiener Instituts für Motivforschung, kennt sich bestens aus mit den Codes, von denen es rund um Teller und Weinglas wimmelt. Ihr zufolge erbringt, wer kostbaren und großen Wein bestellt oder als Geschenk mitbringt, erstens den Nachweis finanziellen Kapitals, zweitens den Nachweis kulturellen Kapitals und gewinnt drittens soziales Kapital. Diesen Mehrwert erzielt der Önokapitalist folgendermaßen: Die teure Flasche ist Ausdruck großer Liquidität, die ausgewiesene Qualität des Inhalts weist ihn als Connaisseur aus. Beides macht ihn zur guten Partie, zur Zierde einer Gesellschaft – was sich bezahlt machen kann.

 

Den Einstieg in dieses Geschäft erleichtert ein gewisses Grundwissen, zum Beispiel über das Prestige von Regionen. »Mit einem Burgunder liegen Sie nie falsch«, sagt Karmasin, »und in Österreich sind Sie mit der Südsteiermark immer gut bedient.« Zu den Weinen Südafrikas, Australiens oder anderer Überseeländer aber sagen Puristen oft: industriell. Das außereuropäische Mitbringsel birgt mithin Gefahr für den Schenker.

 

Noch schlimmer greift daneben, wer mit Edelzwicker, Liebfrauenmilch und Kröver Nacktarsch auf Sozialkapital spekuliert. Eindeutig falscher Code! »Die Sorten funktionierten, solange die Weinkultur in den Kinderschuhen war«, sagt Karmasin. Heute sind wir weiter. Der Önokapitalist spielt mit Border, Mystic und Rêve de Jeunesse um Profite.

 

Wer glaubt, vor dem Kosten würde einzig der Blick auf Farbe und Trübung sowie die Nase, tief ins Glas gesteckt, unser Urteil über einen Wein beeinflussen können, macht sich etwas vor. »Bei Kerzenlicht geht die Sensorik in Hab-Acht-Stellung«, sagt der Psychologe Reuschenbach, »jeder denkt: jetzt muss der Wein gut schmecken!« Läuft im Restauranthintergrund leise Klassik – eine Studie hat’s bewiesen –, steigt die teure Lust auf edle Weine. Pop-Geriesel dagegen hilft beim Sparen von Bewirtungskosten.

 

Wir und der Wein sind längst nicht mehr allein. Das haben wir uns selber zuzuschreiben. Die Kulturentwicklung des Homo sapiens ging einher mit der Abkehr vom simplen Einverleiben der Genussmittel. Er hat abertausend Strategien entwickelt, um Genüssen, nach denen er lüstern und vielleicht etwas primitiv giert, ein kulturelles Antlitz zu verpassen. Süßes wird zur Praline, zum kleinen Kunstwerk, und das Saufen mittels Thermometer, Kühler, Dekantierer und Kristallglas zum ernsthaften Ritual. »Den gefährlichen Dingen des Lebens«, sagt die Motivforscherin Karmasin, »ziehen wir ein kulturelles Hemdchen über.«

 

Warum auch nicht. Doch wenn uns die Ausstattung der Flasche und andere Begleitumstände allzu sehr in die Irre führen, zahlt das Gehirn den Preis. Dann fährt der Kater seine Krallen aus.

 

© DIE ZEIT 16.09.2004 Nr.39

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Gude!

 

Etwas OT, aber sicher interessant (nicht nur für Rob).

Falls es zu sehr OT sein sollte, kann es gerne rausfliegen.

 

Eine Anmerkung meinerseits:

Das Problem liegt nicht in der Auswertung der Statistik, sondern in der Methode, wie 'gemessen' wurde. Das Ganze hier geht m.E. mehr in Richtung Fragebogendesign.

 

Gruß Kobe

 

http://www.zeit.de/2004/39/W-Statistik

 

Gefühl in Zahlen

 

Die Statistik zeigt, wie sich die Ergebnisse von Weinproben manipulieren lassen

 

Von Christoph Drösser

 

Es war vielleicht die berühmteste Weinprobe aller Zeiten: Am 24. Mai 1976 versammelte der britische Weinhändler Steven Spurrier in Paris die renommiertesten französischen Weinexperten zu einem Test. Es galt, kalifornische Cabernet Sauvignons und Chardonnays mit den besten Weinen aus Bordeaux und Burgund zu vergleichen. Die Weinprobe verlief selbstverständlich blind oder zumindest halb blind: Die Experten wussten zwar, was für Weine ihnen kredenzt wurden, aber die Reihenfolge wurde ihnen vorenthalten.

 

1976 haftete kalifornischen Weinen noch ein exotischer Hauch an. Entsprechend voreingenommen waren die französischen Tester: »Der ist definitiv kalifornisch – der hat keine Nase«, sagte ein Richter – nachdem er an einem (französischen) 72er Bâtard Montrachet geschnüffelt hatte. »Ah, zurück nach Frankreich!«, begeisterte sich ein anderer nach einem Schlückchen Chardonnay aus dem (kalifornischen) Napa Valley. Die französischen Weinkenner waren sich vollkommen sicher, dass die bewährten Tropfen aus ihrer Heimat den Emporkömmlingen aus dem Westen überlegen sein würden.

 

Um so erstaunlicher war das Ergebnis: Bei den Rotweinen gewann der Stag’s Leap Wine Cellar, bei den Weißen der Chateau Montelena – beides 1973er Weine aus Kalifornien. Ein Reporter von Time, der bei der Probe zugegen war, trug die Kunde vom Sieg der US-Weine in die Heimat, wo die New York Times und die Washington Post die Nachricht begierig aufgriffen. Dieser Tag im Mai, kurz vor der 200-Jahr-Feier der amerikanischen Unabhängigkeit, markierte die önologische Emanzipation der Neuen Welt von Old Europe. Wer weiß, ohne diese Weinprobe könnten wir heute im Supermarkt vielleicht nicht die amerikanischen Massengetränke von Gallo und Mondavi kaufen.

 

Aber war die Meldung überhaupt korrekt? Hatten die amerikanischen Weine wirklich so eindeutig gewonnen? Statistiker zweifeln heute das Urteil von damals an, nachdem sie sich die vollständig erhaltenen Wertungsbögen der Teilnehmer noch einmal genauer angesehen haben.

 

Wein und Statistik: Da treffen nämlich zwei Welten aufeinander, die verschiedener nicht sein könnten. Hier das Reich des Genusses, in das man mit allen seinen Sinnen eintaucht, noch dazu zunehmend betört von der Wirkung des enthaltenen Alkohols – dort die abstrakte Welt der Zahlen, in der die komplexe sensorische Erfahrung, die von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich ist, reduziert wird auf einen numerischen Wert. Die Zahlenhuberei soll das scheinbar Paradoxe leisten. »Die Summe der Subjektivitäten ist der Beginn der Objektivität«, hat ein Weinexperte einmal gesagt. Man versucht, aus vielen Einzelmeinungen zu einem Gesamturteil darüber zu kommen, was ein »guter« Wein ist. Das haben Weinproben im Übrigen gemeinsam mit anderen Veranstaltungen, bei denen die Geschmacksurteile zumindest eine Rolle spielen. Sei es bei Eiskunstlaufmeisterschaften, Tanzturnieren oder der Vergabe von Forschungsgeldern: Man versucht den subjektiven Faktor in den Griff zu bekommen, indem man nicht einen, sondern mehrere Experten urteilen lässt.

 

Während es beim Sport oder in der Wissenschaft wenigstens noch objektive Kriterien für Qualität gibt, zählen beim Wein nur der Trinker und sein Sensorium. Man kann über Geschmack nicht streiten, aber man kann versuchen, in den Protokollen der Weinproben statistische Trends zu finden. Selbst wenn die »Testgruppe« nur aus einer Person besteht, etwa dem Autor eines renommierten Weinführers, ist zum Beispiel die Frage interessant, ob der Experte morgen noch dasselbe Urteil fällen würde wie heute – diese Reproduzierbarkeit des Ergebnisses wird allerdings selten überprüft.

 

Weinproben mit mehreren geschulten Weinkennern verbreitern die statistische Basis für die Beurteilung eines Weins. Dann stellt sich sofort die Frage: Wenn die Tester aufgrund ihrer verschiedenen Geschmäcker nicht eindeutig alle denselben Wein präferieren – weicht das Ergebnis überhaupt signifikant von einem zufälligen Resultat ab? Ein solches würde man etwa erwarten, wenn man den Juroren denselben Tropfen unter fünf verschiedenen Namen vorsetzt. Dabei ließe sich auch ein Sieger ermitteln, aber das Ergebnis wäre nicht aussagekräftiger, als wenn man gewürfelt hätte.

 

Um mit einer Weinprobe überhaupt sinnvoll Statistik betreiben zu können, müssen ein paar Grundregeln eingehalten werden. Die wichtigste: Blind testen! Sobald ein Juror weiß, was er im Glas hat, ist er voreingenommen. Der französische Önologe Frédéric Brochet konnte 57 ausgewiesene Weinkenner hinters Licht führen, indem er ihnen denselben mittelprächtigen Bordeaux einmal als Landwein präsentierte, das andere Mal mit einem Grand-Cru-Etikett. Bei einer anderen Degustation konnte er ihnen sogar einen gefärbten Weißwein als Roten unterjubeln. Über das Auge lassen sich offenbar die Geschmackspapillen täuschen. Die zweite Regel: Die Unabhängigkeit der Juroren muss gewährleistet sein. Sobald einer am Tisch sein Urteil herumposaunt, sind die anderen schon beeinflusst. Ganz strenge Tester verordnen daher bei der Weinprobe absolutes Stillschweigen, auch wenn die Geselligkeit darunter leidet.

 

Und drittens muss natürlich die Statistik korrekt sein. Und da hapert es manchmal. Steven Spurrier, der Veranstalter der epochalen Weinprobe von 1976, beschränkte sich darauf, die Noten der Juroren aufzuaddieren und den Mittelwert zu errechnen. Dann stand oben auf der Liste jeweils ein amerikanischer Wein, und für ihn war der Fall klar. Der Statistiker Dennis Lindley vom Londoner University College hat sich die Tabelle noch einmal genauer angesehen und ist zu einem etwas anderen Ergebnis gekommen:

 

–Betrachtet man die Weinprobe als Showdown zwischen Frankreich und den USA und schaut auf die Ergebnisse aller Weine, dann kommt bei den Franzosen insgesamt eine etwas höhere Durchschnittsnote heraus. Beim Rotwein war die Differenz statistisch signifikant, beim Weißwein nicht.

 

–Der Unterschied zwischen dem ersten Platz (einem Kalifornier) und dem zweiten Platz (einem Franzosen) war sehr gering; wäre am nächsten Tag vielleicht das umgekehrte Ergebnis herausgekommen? Mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin 48 Prozent ja, rechnet Lindley vor.

 

Das simple Aufaddieren der Punkte, die die Juroren den Weinen auf einer Skala von 1 bis 20 geben, führt außerdem zu einer Verzerrung des Ergebnisses. Darauf weisen der Weinexperte Orley Ashenfelter und der Statistiker Rechard E. Quandt hin: Bei dieser Durchschnittsbildung erhalten nämlich die Juroren ein höheres Gewicht, welche die Punkteskala möglichst voll ausnutzen, also zum Beispiel zwischen 2 und 18 Punkte vergeben. Benachteiligt sind Tester, die sich etwa nur in einem kleinen Wertebereich bewegen. Um dieses Ungleichgewicht zu beseitigen, schlagen die beiden vor, die Wertung jedes Jurors in eine Rangfolge umzurechnen und die Positionen zu addieren.

 

Bei den 10 Weinen und 11 Testern von 1976 wäre demnach das beste mögliche Ergebnis 11 Punkte gewesen, das denkbar schlechteste 110 Punkte. Rechnet man die Wertungstabelle der Pariser Richter auf diese Weise um, so ergibt sich bei den Rotweinen zwar derselbe Sieger – mit 41 Punkten aber ist er weit von der Höchstnote entfernt. Ansonsten wird die Rangfolge ein wenig durchgeschüttelt (bei den Weißen stimmt das Ergebnis überein). Wenn man die Wertungen aller Weine zusammenfasst, liegt auch hier Frankreich vor den USA, bei den Roten sogar sehr deutlich. Zieht man ein Resümee der berühmten Weinprobe, so würde das Urteil eher lauten: Die Kalifornier haben aufgeholt, ihre Weine sind den französischen praktisch ebenbürtig – aber auch das wäre damals schon eine revolutionäre Nachricht für die Weinwelt gewesen.

 

Nicht jeder Weinfreund muss nun mit dem Taschenrechner oder speziellen Statistikprogrammen seine gesammelten Verköstigungsnotizen aufarbeiten. Die eingehende mathematische Untersuchung von Testergebnissen liefert aber durchaus neue Erkenntnisse – und hilft bares Geld sparen. So fand Roman Weil, in Personalunion Wirtschaftswissenschaftler an der University of Chicago und Vorsitzender der amerikanischen Oenonomy Society, heraus, dass die verbreiteten Jahrgangstabellen, mit denen der Weinkäufer gute von schlechten Jahrgängen eines Weines unterscheiden können soll, nicht viel taugen. In blinden Tests schmeckten seine Versuchspersonen meistens überhaupt keinen Unterschied zwischen den Jahrgängen. Und wenn sie es konnten, wie im Falle der Bordeauxweine, dann gefielen ihnen die angeblich schlechten Jahrgänge besser. Sein Ratschlag: Die Jahrgangstabellen »helfen Ihnen, die günstigen Wein-Schnäppchen zu finden: Kaufen Sie den Wein aus den schlechten Jahrgängen.«

 

© DIE ZEIT 16.09.2004 Nr.39

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